Lesen

Für das Lesen benötigen Schülerinnen und Schüler neben den Kenntnissen der Schriftsprache einen Basiswortschatz (Verstehenswortschatz) und grundlegende Kenntnisse der Grammatik (Textgrammatik). Der Erwerb der Lesefähigkeit wird durch Vorleseerfahrungen unterstützt und baut auf den mündlichen Kompetenzen und/oder vorbereitenden Übungen zur Textentlastung auf. Das heißt, dass die Schülerinnen und Schüler im DaZ-Anfangsunterricht über Themen lesen, zu denen sie den Wortschatz bereits erworben haben. Texte können aber auch Impulse sein für eine anschließende mündliche Bearbeitung. Der Input neuer Inhalte, Wörter und/oder Strukturen erfolgt in diesem Fall über das Gelesene.

Basale Lesekompetenz aufbauen

Wenn die Lehrperson Geschichten erzählt und Texte vorliest oder mittels (digitaler) Medien, wie Hörbücher, anbietet, führt sie die Schülerinnen und Schüler zum eigenständigen Lesen hin und an konzeptuelle Schriftlichkeit heran. Dies ist insbesondere für Kinder, die zuhause gar nicht oder wenig in Kontakt mit Literatur/Schriftlichkeit kommen, von großer Bedeutung, nicht zuletzt für ihren schulischen Erfolg. Die Lehrperson wählt Texte aus, die an das Alter, das Hintergrundwissen und den Sprachstand der Zuhörerinnen und Zuhörer angepasst sind und ihr Interesse wecken. Die Mündlichkeit in der Zweitsprache wird gefördert und das Sprechen über das Gehörte und das Nacherzählen helfen den Schülerinnen und Schülern, literale Kompetenzen zu entwickeln (Ehlers, 2017). Für DaZ-Lernende ist es wichtig, neben Thema, Handlung und Figuren auch die Beziehungen zwischen den Ereignissen zu besprechen, z. B. durch Fragen nach dem Warum und Wie oder durch das Erzählen der Geschichte aus der Sicht einer anderen Figur. Damit legt die Lehrperson den Fokus auf die für die Textkompetenz so essentiellen sprachlichen Mittel, die zeitliche, räumliche und logisch-kausale Zusammenhänge (Kohärenz) herstellen, also Strukturwörter wie Konjunktionen oder Pronomen.

Die Leseflüssigkeit (Lesegeschwindigkeit und -genauigkeit, Automatisierung und Betonung) ist von zentraler Bedeutung für das Leseverständnis (Schneider et al., 2013). Für die Leseflüssigkeit wiederum ist eine basale Lesekompetenz als Grundlage zu sehen. Das gesicherte Dekodieren von Wörtern (durch Synthetisieren, Morphembildung und Worterkennung) ist die Voraussetzung, um Wörter zu Sätzen zusammenzufügen. Bei Leserinnen und Lesern mit Deutsch als Zweitsprache ist oft die Leseflüssigkeit verringert, was das Leseverständnis verhindern kann (Ehlers, 2017). Der richtige Zeitpunkt für den Beginn der Förderung der Leseflüssigkeit ist nach dem Erwerb der alphabetischen Strategie (Rosebrock et al., 2006). Dafür kann die Lehrperson folgende Verfahren einsetzen:

  • Lautleseverfahren: Dieses Übungsverfahren nimmt die technische Seite des Lesens in den Blick: Worterkennung, Entschlüsselung von Wortbedeutungen, Aussprache, sinnorientierte Betonung, Zusammengehörigkeit der Wörter, Satzzusammenhang. Verschiedene Übungen, wie das wiederholende Lesen, das Chorlesen, Paired-Reading oder das Lückenlesen, fördern effektiv die Leseflüssigkeit der Schülerinnen und Schüler. Für Schülerinnen und Schüler mit Deutsch als Zweitsprache sollte beim Einsatz des Verfahrens gewährleistet sein, dass sie sprachlich vorbildliche Textvorträge hören, wovon sie stark profitieren können.
  • Vielleseverfahren: Dieses Verfahren umfasst freie Lesezeit während des Unterrichts, für die die Schülerinnen und Schüler ihre Lektüre selbst wählen. Im DaZ-Anfangsunterricht sind die Einschätzung und ein gut überlegter Einsatz des Verfahrens von Seiten der Lehrperson gefragt, da die Schülerinnen und Schüler von der Möglichkeit, selbständig frei gewählte Texte zu lesen, evtl. überfordert sind. Ein sehr wichtiger positiver Punkt der freien Lesezeit ist das Sammeln eigenständiger und selbstbestimmter Erfahrungen mit dem Lesen (Schneider et al., 2013).

Um Lesefähigkeiten zielgerichtet aufbauen zu können, beobachtet die Lehrperson die Leseentwicklung ihrer Schülerinnen und Schüler regelmäßig mit Hilfe von informellen Verfahren, die ohne viel Aufwand in den Unterricht integriert werden können (z.B. Lautleseprotokoll), sowie mit Hilfe von formalen Instrumenten, wie z.B. ELFE II.

Leseverstehen entwickeln

Verfügen Schülerinnen und Schüler über eine gesicherte basale Lesekompetenz, sind sie zunehmend in der Lage sinnerfassend zu lesen, das Gelesene zu verstehen. In folgenden Schritten entwickeln Schülerinnen und Schüler ihre Lesekompetenz bis zur Erfüllung der Kompetenzziele, die für die aktive Teilnahme am Regelunterricht zu erreichen sind:

  • komplexere Texte mit vermehrter Strategieanwendung
  • kurze und einfache authentische Texte zu vertrauten Themen
  • einfache (auch literarische) Texte zu vertrauten Themen
  • kurze, konkrete schriftliche Arbeitsanweisungen
  • alltägliche Texte zu vertrauten Themen
  • mit unbekannten Wörtern umgehen
  • erste Lesestrategien einsetzen (siehe unten)
  • kurze, einfache Texte aus dem Themenkontext
  • Dialoge aus dem Themenkontext, die zuvor veranschaulicht wurden
  • kurze Sätze und Satzfolgen mit bekanntem Wortschatz

Die angebotenen Texte unterschiedlicher Textsorten sollen den authentischen Sprachgebrauch samt aller Satzmuster des Deutschen abbilden und immer wieder auch über dem Sprachniveau der Schülerinnen und Schüler liegen – eine gut durchdachte Auswahl der Lesetexte ist dem Vereinfachen immer vorzuziehen. Letztlich bestimmen die Aufgabenstellungen zum Text den Schwierigkeitsgrad mit. Authentische Texte sind meist reich an Alltagsthemen und ermöglichen einen guten Kontakt mit der deutschsprachigen Wirklichkeit. Die Lehrperson beachtet neben sprachbezogenen Kriterien auch die Interessen der Schülerinnen und Schüler. Durch ihr Angebot von Scaffolds für die Erarbeitung von Lesestrategien errichtet sie Brücken zum Text in Form von Aktivitäten zur Unterstützung des Leseprozesses und von Lesestrategien.

Im DaZ-Anfangsunterricht vermittelt die Lehrperson gezielt erste Lesestrategien, die den Schülerinnen und Schülern dabei helfen, sich die Inhalte von Texten zu erschließen (MBWK SH, 2018):

  • Vorwissen (mündlich und schriftlich) aktivieren und evtl. verschriftlichen
  • Bild-Text-Zuordnung vornehmen
  • Verstandenes markieren
  • Zentrale Informationen herausarbeiten: Beispiele streichen, sich wiederholende Informationen nur einmal markieren, bei Aufzählungen einen Oberbegriff suchen, …

Zunächst leitet die Lehrperson die Lesestrategien explizit an, erklärt ihren Nutzen und demonstriert ihren Einsatz, bevor die Schülerinnen und Schüler sie selbstständig anwenden. Die Lehrperson bietet Hilfestellungen zur Texterschließung (z.B. Paralleltexte, Wortschatzliste, Bilder, Fragen, Wörterbuch) und Aufgaben an, die in den Text hineinführen und beim verstehenden Lesen begleiten (MBWK SH, 2018). Wichtig ist auch, dass die Lehrperson die Schülerinnen und Schüler zur Selbstevaluation und Reflexion der erprobten Lesestrategien anregt.

Zum Lesen motivieren

Grundlegend für die Entwicklung der Lesefähigkeit ist die Motivation. Schülerinnen und Schüler, die Lust am Lesen haben, verbessern ihre Lesekompetenz allein durch die erhöhte Menge an Lektüre. Im DaZ-Anfangsunterricht bietet die Lehrperson den Lernenden Texte unterschiedlicher Textsorten aus verschiedenen Medien entsprechend ihrer Sprachkompetenz, ihres Alters und ihrer Interessen an und bezieht das digitale Angebot (Blogs, Foren, Wikis aller Art, Social Media usw.) bewusst mit ein. Emotionen und die Möglichkeit zur Identifikation wirken sich positiv auf die Aufmerksamkeit der Lesenden aus (Ehlers, 2017). Leseerfahrungen in den Erstsprachen erhöhen die Lesekompetenz, da diese nicht an eine Sprache gebunden ist, sondern transferiert werden kann, und damit die Lesefreude (Riss et al., 2016).

Klassen- und Schulbibliotheken ermöglichen den Schülerinnen und Schülern einen niederschwelligen Zugang zu Literatur. Zusätzlich plant die Lehrperson gemeinsame Büchereibesuche und bezieht auch die Eltern in den Leseunterricht mit ein, um den sozialen Aspekt des Lesens zu fördern.

Literatur

Ehlers, S. (2017). Lesekompetenz in der Zweitsprache. In B. Ahrenholz & I. Oomen-Welke (Hrsg.), Deutsch als Zweitsprache (DTP, Bd. 9, S. 279-291) (4., vollst. überarb. u. erw. Aufl.). Schneider.

Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur des Landes Schleswig-Holstein (MBWK SH) (Hrsg.). (2018). Curriculare Anforderungen Deutsch als Zweitsprache. Allgemein bildende Schulen. https://fachportal.lernnetz.de/files/Inhalte%20der%20Unterrichtsf%C3%A4cher/Deutsch%20als%20Zweitsprache/Curriculare%20Anforderungen/Curriculare%20Anforderungen%20DaZ.pdf

Riss, M., Aeschimann-Ferreira, E., Rocha, R. & Schader, B. (2016). Förderung des Lesens in der Erstsprache. (Materialien für den herkunftssprachlichen Unterricht. Didaktische Anregungen 2). Orell Füssli.

Rosebrock, C., Nix, D., Riekmann, C. & Gold, A. (2011): Leseflüssigkeit fördern. Lautleseverfahren für die Primar- und Sekundarstufe. Kallmeyer.

Schneider, H.-J., Becker-Mrotzek, M., Sturm, A., Jambor-Fahlen, S., Neugebauer, N., Efing, C. & Kernen, N. (2013). Wirksamkeit von Sprachförderung. Expertise. Bildungsdirektion des Kantons Zürich (Hrsg.). https://www.stiftung-mercator.de/content/uploads/2020/12/Schneider_et_al_Wirksamkeit_Sprachfoerderung.pdf